Ich fühlte mich etwas wie in der Serie „Unbreakable Kimmy Schmidt“, als ich mich nach guten sieben Jahren Beziehung wieder bei Grindr & Co. anmeldete. In der Serie sitzt Kimmy Schmidt zusammen mit drei weiteren Frauen 15 Jahre lang in einem Bunker fest, weil sie einer an den Weltuntergang glaubenden Sekte zugehört. Als sie fliehen kann, merkt sie, dass es nie einen Weltuntergang gegeben hat und die Welt sich 15 Jahre lang ohne sie weiterentwickelt hat. Ok, meine Beziehung war kein Bunker und ich war auch nicht abgeschottet von der Außenwelt, doch ich hatte nie mehr einen Account bei einer Dating-App. Bis jetzt! Heute bin ich Single und wie sieht mein Handy aus? Ganze fünf Dating-Apps fressen nicht nur meine wertvolle Zeit, sondern auch den Akku meines Smartphones.
Doch erstmal zurück in das Jahr 2008. Ich habe mich geoutet, bin Single, jung und vor allem unerfahren. Zumindest mit Männern. Ein Freund meldete mich dann bei „Gay Romeo“ an und sagte: „Berry, guck einfach, ob und was dir gefällt. Du musst dich ja nicht gleich daten“. Die nächsten drei Tage war ich daueronline. So viele Männer, alle schwul und sie haben (gefühlt) alle nur auf mich gewartet. Ja, ich hatte meinen Spaß und es war eine witzige und interessante Phase meines Lebens. Ich lernte dann jemanden kennen (allerdings nicht über Gay Romeo), kam mit ihm zusammen und brauchte meinen Account nicht mehr. Gelöscht und bye bye. See you in 2017. Dass sich die Dating-Welt zwischen 2009 und 2016/2017 so intensiv ändern würde, wie das Erscheinungsbild von Bruce Jenner im selben Zeitraum, hätte ich nie gedacht.
War damals alles wirklich besser oder nur analoger?
Dem aufmerksamen Leser wird nun ein kleines, aber feines Detail im oberen Absatz aufgefallen sein. Die Rede ist von Account und Profil und nicht von App. Genau, denn im Jahr 2008, man glaubt es kaum, waren die Handys nicht mal in der Lage wirklich gute Bilder zu machen. LTE, Highspeed und Hotspot hörten sich eher nach neuen Szene-Drogen an und wer schon in der Lage war mit seinem Handy unterwegs online zu gehen, hatte sein Datenvolumen verbraucht, nachdem er in den Browser nur „www“ eingegeben hatte. Geschweige denn die Ladezeit von einem Tag, um nur Google-Logo zu laden. Also nutzte man „Gay Romeo“ über den heimischen PC oder Laptop. Bilder machte man mit der Digitalkamera und wer 2008 eine Digitalkamera hatte, war schon krass in der Zukunft unterwegs. Diese Bilder wurden dann mühsam auf den Rechner geladen und im Gay Romeo Profil online gestellt. Wer Cam-Sex machen wollte, hatte noch eine externe Kamera am Laptop und mal eben so Bilder verschicken war halt nicht. Wenn du gerade geil warst und Bilder austauschen wolltest, musstest du erstmal die Digitalkamera rausholen, ein gutes Bild hinbekommen (ja, Filter wie auf Instagram war eben nicht), dann dieses Gerät per USB mit deinem Rechner verbinden, der das Gerät aber nicht erkennt…ja, da ist es schon dahin mit der Erektion, Lust und generell…Tschüß!
Es hatte aber viele Vorteile, online nicht so schnelllebig unterwegs sein zu können. Ich habe das Gefühl, dass viele Nutzer damals vorsichtiger waren. Man hat dem Internet noch nicht wirklich vertraut. Facebook setzte sich erst so langsam in Deutschland durch, nachdem alle sich erstmal bei StudiVZ versucht haben. Man hatte nicht duzende Profile wie Instagram, Twitter, Snapchat, Xing usw. Man war skeptisch und so war es auch auf „Gay Romeo“. Ich habe in der Zeit mit Vielen geschrieben und auch, wenn es nicht ganz passte, blieb man auf einer freundschaftlichen Ebene im Kontakt. Immerhin ist man schwul und der andere auch und das hat damals etwas mehr verbunden (In den 80ern und 90ern bestimmt noch mehr). Hinzu kommt, dass Gay Romeo damals bei weitem nicht so viele Nutzer hatte, wie die Apps heutzutage. Die Auswahl war also bescheidener. Es war alles etwas bedachter, langsamer und langlebiger. Zumindest für mich. Es war eben 2008.
Doch was war dieses „2008“ eigentlich? 2008 kam das iPhone 3G. Das erste Smartphone mit GPS-Funktion, also genau die Funktion, die der Dating-App Grindr später zum Erfolg verhelfen sollte. Joel Simkhai beauftragte Programmierer für 5.000 US-Dollar mit der Entwicklung der App, die dann 2009 auf den Markt kam. 2010 hatten schon recht viele User diese App. Heute würde ich behaupten, haben 98 % aller schwulen Singles Grindr auf dem Handy. Ich habe heute fünf Dating-Apps: Grindr, Planet Romeo, SCRUFF, Tinder und Bro. Jede App hat einen anderen Vor- und Nachteil. Auf Grindr sehe ich genau, wer in meiner Nähe ist. Muss aber die Leute anschreiben, wenn ich was will, da sie sonst nicht sehen, ob ich auf deren Profil war und vielleicht interessiert sein könnte. Bei Planet Romeo sind irgendwie alle. Auf SCRUFF sind „angeblich“ die etwas männlicheren Typen oder Männer, die männliche Typen suchen und im Grunde ist es Grindr, nur dass ich hier die Leute „Woofen“ kann (wie das Anstupsen auf Facebook) und sie nicht direkt anschreiben muss. Tinder kennt ja jeder und ist eine nette Alternative und Bro ist eigentlich nur ein Witz. Hier sollen heterosexuelle Männer gleichgeschlechtlichen Sex suchen, aber ich sehe dort nur schwule Männer, die auch auf den anderen Apps ihr Unwesen treiben. Next!
Eine App reicht heute nicht mehr
Die Anzahl der Apps verdeutlicht eigentlich worauf ich hinaus will. Als ich mich nach 7 Jahren wieder angemeldet habe, war ich erschrocken. Es gibt kaum noch Hemmungen, alles geht sehr schnell und alles ist total unverbindlich. Du kannst heute mit jemanden schreiben und das Gefühl haben, es ist die beste Konversation seit Jahren und morgen schreibt dir diese Person nicht mehr, weil jemand Besseres gefunden wurde. Man bietet sich selber viel mehr als Produkt an, als noch damals. Zwar konnte man auch 2008 sämtliche Angaben zur Person machen, aber das haben sich Viele noch nicht getraut. Heute ist es eher so, dass du weniger Chancen auf dem „Digitalen Markt“ hast, wenn du nicht genug Angaben machst. So präsentieren sich viele User direkt mit einer ausführlichen Inhaltsangabe, als wäre es die Nährwerttabelle auf der Rückseite eine Tiefkühlpizza. Schwanzlänge, Vorliebe, Aktiv, Passiv bis hin zu HIV positiv oder negativ. Macht man bestimmte Angaben nicht, wird man direkt gefragt. Für einen kleinen Penis hat man heute keine Zeit. Die inneren Werte sind nicht wichtig, wenn du einen aktiven Mann suchst, aber der andere Typ nur passiv, muss er eben ausgetauscht werden. Leute schleudern ihre Bilder einfach nur noch hin und her (und es sind meistens die, dessen Bilder man nicht sehen will) oder kommen direkt zur Sache: „Lust auf Sex, jetzt“? Wenn nicht, dann ab auf das nächste Profil. Es ist ein Warentausch wie auf dem Bazaar. Was soll auch anderes zählen, wenn man sich nur anhand von eben diesen Angaben und Bildern präsentieren kann. Willkommen im Männer-Warenhaus.
Ich will das nicht verurteilen, denn klar brauchen wir Männer unsere App, die nur das Eine bezweckt und uns im Zweifel schnellen Sex ermöglicht. Würde es nicht funktionieren, würden diese Apps heute nicht mehr existieren, so wie Bubble-Tee. Zudem kann es durchaus sein, dass das alles Dinge sind, die es schon immer gab, aber vor Jahren ohne App eben nicht auf Gay Romeo in dieser Form stattfinden konnte, weil es eben kein GPS usw. gab. Ich glaube einfach, dass man sich heute – und damit für mich eben 7 Jahre später – von der Illusion verabschieden muss, auf solchen Apps wirklich einen Mann fürs Leben zu finden. Klar, kommt es vor, denn es gibt die Typen, die genau das suchen, aber die Umgebung einer App ist eine Scheinwelt, die nicht auf Beziehung ausgerichtet ist. Ich muss nicht unbedingt vorab wissen, wie groß der Schwanz ist oder ob er auf Leder steht, wenn ich wirklich einen festen Partner suche. So ist es ja im echten Leben auch nicht. Da hält sich auch nicht jeder die intimen Daten als Schild über den Kopf. Am Ende sind wir alle nur Männer und wenn man uns ein Tablett voller Männer, die jetzt Sex wollen, auf den Tisch setzt, können auch wir nicht widerstehen und fallen in diesen Trott der Sexdates hinein und sehen nicht, was wir eigentlich suchen: Liebe! Zumindest geht es mir so und ich muss sagen, ja, die Apps machen Spaß für jeden Single, der Single sein will, aber sie bringen auch viel Frust, Negativität und Verzweiflung mit sich und das mehr als früher. Dessen muss man sich einfach bewusst sein. Das sieht übrigens auch mein Akku so.