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Leseprobe „Selbstrufmord“ – Wie Martin Tietjen seine Karriere ruinierte!

Mit „Selbstrufmord – Geschichten, die man eigentlich nicht erzählen sollte“ hat der ehemalige VIVA-Moderator Martin Tietjen ein erfolgreiches Buchdebüt gefeiert. In dem Buch berichtet er von den Problemen des Erwachsenwerdens und lässt dabei keine Tabus aus. 

Da Euch mein Interview mit Martin so gut gefallen hat und ich sehr viel Spaß mit dem Buch hatte, gibt es nun einen Auszug als Leseprobe für alle Hollywood Tramp Leser. Das autobiografische Werk berichtet u.a. von Martins wilden Partys, seinen sexuelle Orientierung und seiner Karriere beim Musiksender „Viva“. 

Kapitel 6: Einmal Karriere und zurück

Nach meinem allerersten Casting bei VIVA, bei dem noch überhaupt nichts feststand, war ich so davon überzeugt, diesen Job zu bekommen, dass ich sofort allen erzählte, ich wäre der neue Moderator beim Musikfernsehsender VIVA. Ich hörte auch schlagartig auf, etwas für die Schule zu tun, weil ich mir um meine berufliche Zukunft ja keine Sorgen mehr machen musste.

Vielleicht stimmt es ja wirklich, dass man etwas bekommt, wenn man nur ganz, ganz fest daran glaubt, denn genauso war es ja in diesem Fall. Ich bekam den Job. Allerdings frage ich mich heute, was passiert wäre, wenn ich eine Absage kassiert hätte. Wie erklärt man das seinen Kumpels? Wie um alles in der Welt hätte ich mit diesem schrecklichen Fachabi einen anständigen Studienplatz bekommen sollen? Und was hätte ich um alles in der Welt mit meinem ganzen bereits produzierten Martin-Tietjen-Merchandising machen sollen? Ich war mir sicher – jetzt geht es richtig ab, ich werde zum großen TV-Star, werde Best Buddys mit Gülcan und Klaas und sitze morgen bei Stefan Raab auf der Couch. Doch ich wurde sehr schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Es fing schon mal mit meiner Vertragsverhandlung bei VIVA an. Man kann es gar nicht Verhandlung nennen, weil es eher ein Friss-oder-stirb-Angebot war. Ich saß im schicken Büro-Loft meiner zukünftigen Chefin Sabine direkt an der Spree. Genau solche Frauen wie Sabine imponierten mir. Sie hatte etwas Mondänes. Sie war hübsch, hatte ein bisschen was erlebt und war ziemlich autoritär. Irgendwie fand ich das sexy.

Sabine packte den Vertrag auf den Tisch. Ich war gespannt auf die Zahl. Denn eins war mir schon immer klar, wer im Fernsehen arbeitet, verdient unfassbar viel Kohle und ist stinkreich. Ich ging den Vertrag flüchtig rauf und runter, aber fand keine Zahl, die mich reich machen sollte. „Wir können dir 1200 anbieten – brutto.“ Ich wusste zwar nicht, was brutto ist, aber dass der Betrag in etwa der Miete der Wohnung entsprach, die ich mir neulich angeschaut hatte. Etwas irritiert ging ich aus diesem Gespräch raus. Natürlich schluckte ich die Zahl und unterschrieb ohne Widerworte den Vertrag, aber eigentlich hatte ich mich auf ein Leben in Saus und Braus eingestellt.

Im Juni 2006 zog ich in eine 38-qm-Wohnung in Berlin-Friedrichshain. Aus meinem einen Zimmer konnte ich zwar nicht den Himmel sehen, aber dafür die Mülltonnen im Innenhof. Ich musste mit einem versifften Teppichboden klarkommen, zahlte 350 Euro warm und hatte sogar meine Eltern für eine Bürgschaft anbetteln müssen. Lifestyle of the Rich and Famous. Mein Vater wollte mich eigentlich gar nicht gehen lassen, nicht weil er die Zeit mit mir unter einem Dach so genoss, sondern weil ich in seinen Augen mein ganzes Leben wegschmeißen würde. Ich glaube, aus diesem Grund half er mir auch nicht bei meinem Umzug. Meine Mutter ist zwar nicht die selbstbewussteste und durchsetzungsstärkste Frau der Welt, aber ihre Liebe ist so groß, dass sie mir bei allem geholfen hätte. Auch wenn ihr mein Auszug ein bisschen das Herz brach und sie es sicherlich auch lieber gesehen hätte, wenn ich die Schule ordentlich abgeschlossen hätte, wollte sie mich bei meinem großen Traum unterstützen und organisierte uns eine Umzugshilfe aus der Nachbarschaft. An einem Freitagabend saßen wir erledigt und außer Atem in meiner neuen Berliner Wohnung. Überall standen Umzugskartons herum, unsere Hamburger Nachbarn waren gerade unten am Transporter, um alles für die Rückfahrt vorzubereiten, und meine Mutter nutzte die Zweisamkeit, um mir eine kleine goldene Schachtel zu überreichen. Ein Abschiedsgeschenk. Ich machte mir um meinen Auszug gar nicht so einen großen Kopf, weil es für mich ja in das Leben ging, welches ich immer haben wollte. Aber für meine Mutter war es wohl der Moment, den sie seit meiner Geburt immer im Hinterkopf hatte: der Tag, an dem ihr Kind auszieht.  

Meine Mama wollte vielleicht nicht zeigen, dass mein neues Glück sie in diesem Moment traurig machte. Sie packte schnell ihre Tasche, versuchte sich die Tränen wegzuwedeln, drückte mich fest und bat mich, die Schachtel erst zu öffnen, wenn sie gefahren war. Ach, es war alles so kitschig, aber gleichzeitig so unfassbar herzzerreißend. In der Schachtel lag ein kleiner goldener Engel und eine Karte. Auf der Karte war ein Foto von einem niedlichen Teddybären, und auf der Rückseite klebte ein Ein-Cent-Stück, welches mit Tesa befestigt war. Darunter stand: „Dieser Engel soll immer auf dich aufpassen, wenn ich nicht da bin. Glaub an deine Träume – ich glaube an dich!“ Meeeein Gott – jetzt war alles vorbei. Es brach aus mir heraus, und ich saß mindestens 20 Minuten weinend zwischen meinen Umzugskartons. Dies war der erste Moment, in dem ich wirklich realisierte, dass es wohl nie wieder einen Menschen geben wird, der mich so sehr liebte wie meine Mutter.

Drei Tage später hatte ich meinen ersten Arbeitstag bei VIVA. Ehrfürchtig schloss ich mein Fahrrad vor dem Gebäude an der Stralauer Allee an und ging die Auffahrt hoch. 30 bis 40 Fans standen vor der Tür. Tokio Hotel waren heute zu Gast bei VIVA. Ich war so unfassbar aufgeregt, als ich zum ersten Mal an meinen Arbeitsplatz kam. Ich sollte eine wöchentliche Chartsendung moderieren, die „Ringtone Charts“. Während ich moderierte und die Videoclips liefen, konnte man sich die Songs als Klingelton aufs Handy  unterladen. Es war, glaube ich, die unbeliebteste Sendung bei den Moderatoren, aber ich machte sie mit Liebe und aufgeregten Augen. Also jedenfalls versuchte ich es. Denn ich kam bei meiner ersten Aufzeichnung nur bis zum zweiten Satz, bis ich vom Producer unterbrochen wurde.

Es gab zwei Probleme. 1. meine Texte. Ich war damals so übermotiviert, ich wollte ab Tag 1 alles richtig machen und machte damit eigentlich alles falsch. So entschloss ich mich zum Beispiel, meine Moderationstexte selber zu schreiben, anstatt sie von einer Autorin anfertigen zu lassen. Eigentlich keine schlechte Idee, aber dafür sollte man auch die Fähigkeit besitzen und wirklich schreiben können. Meine Texte waren grottenschlecht. Problem 2: der Teleprompter. Wer eh schon Probleme mit dem lauten und flüssigen Lesen hat, sollte beim Fernsehen eher auf den Prompter verzichten. Ums jetzt aber mal abzukürzen: Die erste Sendung war eine Katastrophe und wurde nicht gesendet. Meine Moderatoren-Kollegin Johanna Klum wurde schnell in den Sender geholt, und sie musste meine Sendung erneut aufnehmen. Natürlich auch mit neuen Texten. Die nächsten Sendungen schafften es zwar auf den Schirm, aber es war immer ein Kampf, und wir mussten einzelne Moderationen unendlich oft wiederholen, bis alles im Kasten war. Mal verhaspelte ich mich, mal vergaß ich etwas vorzulesen, und mal sprach ich eine Künstlerin falsch aus. Die Probleme bei der Aufzeichnung ließen mein Selbstbewusstsein schrumpfen. Die Verzweiflung meines Producers nahm ich natürlich wahr, und dass es nach der Sendung auch immer ein paar ziemlich deutliche Worte zu meiner Arbeit gab, motivierte und bestärkte mich nicht wirklich.

Meine Chefin Sabine versuchte mich aufzubauen: „Sei einfach du selbst – aber irgendwie anders.“ Ich konnte noch nicht mal den ersten Teil des Satzes erfüllen und merkte, dass meine Leistung und „mein Ich“ vor der Kamera nicht überzeugten, und fing an zu zweifeln, ob das, was ich war, überhaupt reichte, um vom Publikum gemocht zu werden. Ich hatte keinen coolen Style, war nicht wahnsinnig sportlich, nicht unfassbar schlagfertig oder witzig, konnte nicht mit großer Attraktivität überzeugen, und meine Haare hatten auch schon lange keine Friseurschere mehr gesehen. Ich brauchte unbedingt ein „Ich“! Also fing ich an, mir eins zu suchen. Fataler Fehler, denn ich nahm mir für die nächste Sendung 50 Cent als Vorbild. Ich kam auf die Idee, als ich ihn gerade bei VIVA über den Bildschirm flimmern sah. „Hey, der ist doch cool und kommt gut beim Publikum gut an.“ Und schon begann mein Rollenstudium. Ich schaute mir genau ab, wie er sich bewegte, wie er Dinge sagte und welche Mimik er dabei hatte. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die nächste Ausgabe der „Ringtone Charts“ von dem lächerlichsten 50-Cent-Imitator der Welt moderiert wurde. Ich verzichtete zwar auf dicke Posen, Goldkettchen und Baggypants, aber in Sachen Mimik, Coolness und Selbstbewusstsein versuchte ich so viel Street Credibility wie möglich in meine Moderation einzubauen.

Nach 60 Minuten Aufzeichnung schaute ich in die fassungslosen Augen meines Producers. Ich hatte mir seine Reaktion irgendwie anders vorgestellt. Ich dachte, er würde mich loben und were gonna party like its ya Birthday. Das eigentlich Schlimme nach dieser Sendung aber war, dass mein Groschen nicht fiel und ich die Suche nach diesem mysteriösen „Ich“ wiederaufnahm. Ich verwarf 50 Cent, und es folgten in den nächsten Wochen Imitationen von Oli Pocher, Frank Elstner, und sogar Shakira war dabei. Es half alles nichts. Die Chartsendung, die Texte, das sterile Greenscreen-Studio, der Producer und ich wurden einfach keine Freunde. Sogar ein, zwei Schnäpse, die ich mir manchmal vor der Aufzeichnung schnell reinkippte, machten mich nicht lockerer und schon gar nicht besser. Man wollte mir in einer anderen Sendung noch eine weitere Chance geben. Die mehrstündige Live-Übertragung der Loveparade 2006. Mutig! Klaas Heufer-Umlauf und Gülcan Kamps übernahmen an der Siegessäule die Hauptmoderation, Johanna Klum, Collien Fernandes und ich übernahmen die Schalten. Man positionierte mich auf einem der vielen Trucks mit drei Schauspielerinnen von „Verliebt in Berlin“. Doch auch hier verknüpfte das Schicksal drei ungünstige Gegebenheiten, die mich am Ende des Tages im Büro der Chefin sitzen ließen. 1. Mein Truck wurde gesponsert von Bitburger. 2. Ich hatte Durst. 3. Es war höllisch laut. Fangen wir nun an, diese Gegebenheiten zu einem bösen Anti-Karriere-Cocktail zu mischen.

Es war einer der heißesten Tage des Sommers, und ich hatte vergessen, mir Wasser mit auf den Truck zu nehmen. Um dem Verdursten entgegenzuwirken, griff ich zu Bier, das es auf dem Truck in Unmengen umsonst in großen Kühlschränken gab. Mein Redakteur tippte mir auf die Schulter und signalisierte, dass wir jetzt die erste Schalte machen würden. Unbedacht, wie eine Bierdose in der Hand während einer Moderation aussehen würde, trat ich vor die Kamera. Um mich herum war es unfassbar laut. Wir waren ja schließlich auf der Loveparade. Tausende Menschen tanzten und jubelten zu harten und ohrenbetäubenden Technobeats.

Ich bekam das erste Thema von meinem Redakteur zugegrölt, die Kamera ging auf Rot, und ich setzte an: „KLAAAAAAAS, GÜÜÜÜÜÜLCAN!!!!!! HIER IST SO EINE UNFASSBAR GUTE STIMMUNG!!!! DIE LEUTE FEIERN, HABEN SPASS OOOOOOOHNE ENDEEEEEEE, UND ES IST EINFACH GEEEEEEIL HIER AUF DEM WAAAAAGEN.“ 

Die Schalte dauerte keine 90 Sekunden, und ich sah nur, wie sich während meiner Moderation der Tonmann die Kopfhörer vom Kopf riss. Ich blickte allerdings nicht, wieso. In meinem Kopf war die Logik ganz klar: Um mich herum ist es laut, deshalb muss ich auch laut sprechen. Ach was … komm, ich gröl einfach ins Mikro, das vermittelt noch mehr Partystimmung. Während des ganzen Tages und der kompletten fünf Schalten kam keiner der langjährigen Fernsehmitarbeiter auf mich zu, um mir zu sagen: „Du, Martin, du musst nicht so ins Mikrophon schreien. Das Mikrophon verstärkt deine Stimme ja eh schon.“ Fazit des Tages und allgemeine Meinung im ganzen Sender: „Der Martin war den ganzen Tag sternhagelvoll!“ Ob es mir jetzt jemand glaubt oder nicht, aber ich habe den ganzen Tag über wirklich nur ein einziges Bier getrunken.

Aber wie das nun mal leider so ist: Hast du einmal einen Ruf weg, bleibt der auch an dir kleben. Erst vor kurzem, etliche Jahre nach meiner VIVA-Zeit, traf ich Collien Ulmen-Fernandes auf einer Veranstaltung wieder. Sie konnte sich zwar nicht an meinen Namen erinnern, aber eins wusste sie noch ganz genau: „Du bist doch der Betrunkene von der Loveparade!“ Eine Eigenschaft meines „Ichs“ hätte ich damals eigentlich schon erkennen müssen. Ich wäre nicht ich, wenn ich aus Situationen lernen würde. Auch bei meinem Moderatorenkollegen Klaas machte ich meinen Ruf als Säufer eigentlich nur noch schlimmer. Kurz nach der Loveparade fragte er mich, ob wir nicht mal abends was trinken gehen wollten. Für mich war „was trinken gehen“ damals aber gleichgesetzt mit „abschießen“. Und leider merkte ich auch erst, als bei mir der fünfte Caipirinha wirkte, dass Klaas immer noch an seinem ersten Bier nippte und gerade mal 45 Minuten seit Betreten der Bar vergangen waren. Aber wenn der Alkohol einmal im Blut ist, ist er nicht mehr zu stoppen. Zwar kann man sich noch einigermaßen gut von außen betrachten und sehen, dass man sich gerade ganz schön zum Deppen macht, aber leider gibt es da kein Zurück mehr, und so plapperte und lallte ich mich durch den Abend und um Kopf und Kragen.

Klaas fragte übrigens nie wieder, ob wir mal was trinken gehen wollen. Dafür meldete sich ein anderer großer deutscher Promi bei mir. Nach einer weiteren furchtbaren Sendung der „Ringtone Charts“ klingelte mein Telefon. Eine Julia meldete sich bei mir. Sie sprach mit einem leicht russischen Akzent, sie sei Agentin von Beruf und hätte in der „Bild“ gelesen, dass ich ein neues Gesicht bei VIVA wäre, und wollte sich mit mir treffen. Unsicher schlurfte ich am nächsten Tag in einer viel zu legeren Adidas-Jacke Richtung Hyatt Hotel am Potsdamer Platz. Als ich gerade am Alexanderplatz die U-Bahn wechseln wollte, rief sie mich erneut an: „Ja, hey, hier ist Julia. Du sag mal, wäre es okay für dich, wenn der Oli gleich mitkommt?“ Ich bejahte gleichgültig, schließlich wusste ich ja gar nicht, wer dieser Oli überhaupt war. Ich betrat das Hyatt und hörte schon am Eingang lautes Gelächter und eine schrille, durchdringende Stimme durch die Gänge schallen. Ich gelangte in das Atrium des Fünfsternehotels und sah drei Kellner mit langen Schürzen kichernd von links nach rechts rennen. An einem Tisch am Rande des Atriums saßen zwei Personen. Eine davon hatte langes, rotes Haar und winkte mir zu. Julia. „Hi, Martin, komm rüber!“ Ich steuerte schüchtern auf die beiden zu und fühlte mich etwas fehl am Platze. Geknickt durch meinen nicht ganz so optimalen Start bei VIVA, war ich nicht mehr so davon überzeugt, dass Moderator der Beruf für mich war. Bevor ich aber komplett vor Selbstzweifel in meinen eigenen Schuhen versank, hörte ich wieder diese schrille Stimme. Sie kam von dem blonden Kerl neben Julia. Er pöbelte die Kellner laut und scherzhaft an, die wie kleine japanische Schulmädchen kichernd vor ihm standen. Ich schaute genauer hin – da saß tatsächlich Oli Pocher.

Ungläubig schüttelte ich seine Hand und setzte mich zu den beiden. Verdammte Scheiße! Das glaubt mir von meinen Kumpels doch keiner! Es stellte sich heraus, dass Julia die Agentin von Oli war und gerade nach neuen Talenten für ihre Agentur suchte. Oli Pocher war damals auf seinem absoluten Karrierehoch. Er hatte unzählige TV-Auftritte, mit „Vollidiot“ einen anstehenden Kinofilm, mit „Schwarz & Weiß“ eine WM-Hymne in petto und startete gerade noch eine erfolgreiche Standup-Karriere. Nach einigen weiteren Gesprächen mit Julia wurde ich in die Agentur aufgenommen und gehörte damit ein bisschen zur Pocher-Entourage. Ich wurde auf viele Veranstaltungen mitgenommen, konnte aus dem Backstage Olis Auftritte mitverfolgen und bekam vorgelebt, was in dieser Branche karrieremäßig alles möglich war. Tolle Hotels, Promi-Partys, überall Essen und Trinken umsonst, große Fernsehshows, Berühmtheit, Geld und Applaus. Das alles fixte mich noch mehr an. Oli war damals 27 Jahre alt, und ich beschloss, dass ich mit 27 auch da sein wollte, wo Oli gerade war. Nur so als kleiner Einwurf: Die Tatsache, dass ihr vor dem Erwerb dieses Buches wahrscheinlich noch nie meinen Namen gehört habt, verrät vielleicht ein bisschen, wie nah ich diesem Ziel gekommen bin.

Mit wahnsinnig viel Tatendrang und einem Ziel vor Augen ging ich wieder zurück an die Arbeit bei VIVA. Dass eine Julia, die einen Oli Pocher managte, auch mich in der Agentur haben wollte, beflügelte mich natürlich ungemein. Mir war klar, dass ich in meinem Moderatorenjob noch ziemlich viel lernen musste, aber ich beschloss auch an einer anderen Baustelle zu arbeiten: mit den Kollegen Freundschaft schließen. Ein harmonisches Arbeitsklima würde mir vielleicht helfen, nicht mehr ganz so angespannt und aufgeregt bei den Sendungen zu sein. Hallooooo, Karina! Karina war wirklich die hübscheste Mitarbeiterin bei VIVA. Tolle, lange braune, lockige Haare, strahlend schöne blaue Augen und perfekte weiße Zähne. Ihr kleiner, süßer schwäbischer Akzent machte sie dazu noch sehr charmant und nahbar. Ich ging ab und zu mal rüber zu ihrem Arbeitsplatz, um ein bisschen zu quatschen, und als ich durch meine neue Agentur zur Premiere eines Kinofilmes eingeladen wurde, war ich kurze Zeit ihr bester Freund. Auf dem Flur kam sie auf mich zu, warf ihre schönen Haare nach hinten, lächelte mich an und fing an zu arbeiten: „Maaaaaaartin. Du sagge ma, du hascht doch da Tiggets für die Premiere, da mid dem Ashton Kutscher. Meinsch’t du kannscht da wen mit hinnehme?“ Ich konnte, ich hatte ein Plus 1. „Meinscht, wir beide kööönnte da hingehe?“ Klar, ich nickte und schlug vor, dass man ja vorher auch was essen gehen könnte. „Mmmmhhhh naaaaah.“ Auf einmal fing sie an, sich zu winden. „Schaust, de Sache isch die. Mein bescht Freundin, die Katinka, is och eingelade. Also Esche gehe is ne subbi zweete Idee, abba isch würd dann eher mit de Katinka hingehe. Wir beide sääähe unsch dann da, Maddin. Isch doch ach fein.“ Die kleine Hexe. Ihr ging es natürlich nicht um mich, aber mir war schon sehr bewusst, was diese Tickets wert waren und wie gerne sie auf die Premiere wollte. Also pokerte ich: „Wir machen einen Deal. Du bekommst mein Plus-1-Ticket, um mit deiner Freundin hinzugehen, aber dafür darf ich dich ein andermal zum Essen einladen.“

Ihr Lächeln und ihr Charme waren weg. „Nein!“ Nein? Einfach nur nein? Sie sagte nichts Charmantes, um sich herauszuwinden, und versuchte mir keine Ausrede aufzutischen? Mit so direkter Ablehnung hatte ich nicht gerechnet, und sie wurde mir schlagartig unsympathisch. Aber was macht man jetzt? Mein eigentlicher Plan war es ja, mich mit meinen Kollegen anzufreunden. Sollte ich jetzt auch zickig sein und ihr das Ticket nicht geben? Das wäre affig gewesen. Von daher überwand ich mich, hakte sie im Kopf ab und gab ihr das Ticket. Frauen … in solchen Momenten fand ich es nicht mehr ganz so schlimm, so was irgendwann nicht heiraten zu müssen.

Ein paar Wochen später waren wir mit allen Kollegen auf einer riesigen Fashionparty, die in einer alten U-Bahn-Werkstatt stattfand. Modisch fühlte ich mich eher den ehemaligen Schweißern zugehörig als den coolen, hippen Berliner Fashionistas, die hier feierten. Auf der Bühne spielte eine unfassbar angesagte Band, von der man zwei Wochen später nichts mehr hörte, und alle zehn Minuten musste ich mir silbernes Konfetti von der Zunge fischen. Ich stand etwas zu dicht an der Kanone. Ich wollte Karina noch eine Chance geben und fing an, mich mit ihr zu unterhalten. Nach ein paar Minuten zischte eine halbvolle grüne Bierflasche an mir vorbei und zerbrach wenige Meter hinter mir auf dem Backsteinboden. Ich blickte entgegengesetzt der Wurfrichtung und schaute in ein wutverzerrtes Gesicht, dessen Besitzer – na … sagen wir mal gnädig „beschwipst“ irgendetwas in meine Richtung pöbelte. Es war einer meiner Chefs. Obwohl ich kurz anderer Meinung war, kam ich schnell zu dem Schluss, dass meine 50-Cent-Parodie leider nicht die Muskeln und die Schlagkraft imitieren konnte. Ich entschied mich also doch dazu, eher deeskalierend vorzugehen. Ich suchte das Weite. Mit Vorgesetzten, die mit Bierflaschen nach einem werfen, sollte man nicht spaßen. Nach langem Grübeln und ein paar Hinweisen von Kollegen verstand ich, was hier gerade passierte: er wollte Karina und hatte wohl auch schon meinen ersten Kontaktversuch mitbekommen. Ein bisschen schmeichelte es mir dann schon, dass ein gestandener Mann Angst davor hatte, von einem kleinen, zwanzigjährigen Pimpf mit Bauchansatz ausgebootet zu werden.

Wir können festhalten: Das Projekt Kollegen zu Freunden machen lief schleppend und wurde kurze Zeit später auch überflüssig.

Ich saß mal wieder bei meiner Chefin Sabine im Büro, denn es sollte um meine Vertragsverlängerung gehen. Mein erster Vertrag lief nur über sechs Monate, und nun war ich gespannt, wie meine weitere Zukunft bei VIVA aussehen würde. Vielleicht eine neue Sendung? Vielleicht mehr Geld? Doch Sabine steckte mir ohne viele einleitende Sätze, dass man meinen Vertrag nicht verlängern würde. Ich schaute sie entgeistert an, versuchte noch ein Lächeln, doch ich hörte schon gar nicht mehr, was sie weiter sagte. Es war einer dieser Momente, in denen sich dein Körper in sich selbst verzieht. Alles, was um dich herum passiert, bekommst du gar nicht mehr mit. Du hörst nur noch dumpfe Geräusche und siehst verschwommene Bilder. Auf einmal findet alles in dir drin statt. Du bist ganz tief irgendwo in dir verloren und hörst dein Herz so laut schlagen, als würdest du es dir direkt neben dein Ohr halten. Du spürst deine Atmung so intensiv wie nach einem Marathon und schaust aus deinen Augen wie aus Fenstern. 

Sabine redete immer noch, und ich spürte nur ganz leicht, wie sie ihre Hand auf mein Knie legte. Ich fand sie ja ganz sexy, aber das interessierte mich gerade gar nicht. Ich war zu sehr mit mir beschäftigt. Was um Himmels willen sollte ich jetzt tun? Ich hatte die Schule geschmissen, kein Zeugnis, mit dem man irgendetwas Vernünftiges anfangen konnte, hatte mich mit meinem Vater nicht gerade gutgestellt und mich in eine große Zukunft verabschiedet. Was sollte ich denn jetzt allen zu Hause erzählen, die dachten, dass ich großer TV-Star werden würde? Und noch mal mit wachsender Panik: „Was in Gottes Namen soll ich jetzt mit meinem Leben anstellen?“ Ich hörte, wie Sabines Stimme nach unten ging und wie sie wohl am Ende ihrer Rede war. Sie drückte mich, ich trat aus ihrem Büro heraus und schloss die Tür hinter mir. Ich wusste genau, dass jetzt zehn Augenpaare auf mich gerichtet waren. Karina und mein Producer hatten ihren Arbeitsplatz genau vor Sabines Büro, und so gerne ich jetzt Stärke gezeigt hätte, liefen mir auf einmal die Tränen über die Wangen. Ich schaute schnell auf den Boden und hastete zu meinem Schreibtisch zurück, vorbei an mehreren auf VIVA eingestellten Fernsehern, auf denen gerade „Junimond“ lief. „Es ist vorbei, bye-bye Junimond“. Besser hätte man es sich nicht ausdenken können. Zwar hatte ich mir mal vorgenommen, niemals bei der Arbeit zu weinen, aber das funktionierte gerade nicht mehr. Mein großer Traum war eben geplatzt, und ich schämte mich mehr dafür, so naiv gewesen zu sein und daran geglaubt zu haben, als hier und jetzt im Büro zu weinen. 

Wenige Tage später trottete ich wehmütig zum letzten Mal aus dem Sender. In diesem Moment hätte ich mir gerne so eine kleine braune Pappbox gewünscht, die Gekündigte in amerikanischen Filmen immer aus dem Büro tragen. So hätte ich etwas zum Festklammern und mehr als nur traurige Gedanken zum Mitnehmen gehabt. Ich fuhr auf meinem Fahrrad langsam und nachdenklich nach Hause, und als ich dort ankam, rief Julia an. Sie hatte einen großen neuen Plan für mich: „Hast du Lust auf Stand-up? Ich hab dir einen Auftritt im Quatsch Comedy Club organisiert – du müsstest jetzt nur noch eine lustige Nummer schreiben. Das wird schon, ich glaube an dich, ich melde mich später.“ Ich will nicht sagen, dass ich diesen Plan jetzt mega gefeiert hätte, aber es blieb mir ja gerade nichts anderes übrig, und vielleicht brachte mich der Auftritt in der Comedysendung auf ProSieben doch ein Stück näher an mein Oli-Pocher-Ziel. Ich machte mich ans Werk, setzte mich wie jeder arbeitslose Berliner mit dem Laptop in den Starbucks, schrieb eine kleine Nummer und nippte den ganzen Tag an einem Tall-Mocha-Frappuccino. Die Nummer handelte von VIVA, Airline-Piloten und Astro-TV. Während ich schrieb, entdeckte ich am Nachbartisch ein bekanntes Gesicht. Es war der ehemalige Sänger einer Berliner Band, und er war mit ein paar Kumpels in dicke Bücher vertieft. Aus dem, was ich auf den Büchern lesen und aus den Gesprächen heraushören konnte, lernten die vier gerade für eine Juraprüfung an der Uni. Auf der einen Seite verschaffte mir diese Beobachtung die Zuversicht, dass es auch nach dem Aus in den Medien eine Zukunft geben konnte, auf der anderen Seite ließ mich diese Beobachtung aber verzweifeln. Für ein Jurastudium brauchte man einen guten Schulabschluss, und ich hatte keinen guten Schulabschluss. Also musste ich mich auf meine einzige zurzeit verfügbare Option konzentrieren: den „Quatsch Comedy Club“. 

Ich war ziemlich fleißig am Schreiben und fing auch an, mein restliches Leben in den Schreibpausen neu zu strukturieren. Ich kaufte mir Teppichreiniger, um endlich den grässlichen Geruch aus dem blauen Teppichboden zu bekommen, stellte aufgrund fehlenden Einkommens auf Billiglebensmittel um und meldete mich bei Gayromeo an. Während meines halben Jahres bei VIVA hatte ich meine ganze Mädchen-oder-Jungs-Problematik ziemlich zurückgestellt, aber jetzt war mir alles egal. Ich entdeckte eine Online-Dating-Seite nur für Kerle und saß abends nach dem Schreiben mit aufgerissenen Augen begeistert vor dem Bildschirm. Wie unfassbar viele Jungs es in meiner Umgebung gab, die alle so waren wie ich! Ich will nicht noch kitschiger werden und sagen, dass ich mich zum ersten Mal irgendwo zugehörig gefühlt hatte, aber es war schon ein schönes Gefühl, zu realisieren, dass es da draußen viel mehr Menschen gab, die ähnlich tickten, als man eigentlich dachte. Aber bevor ch mich in dieses neue Abenteuer schmiss, wollte ich erstmal meinen Stand-up gut hinbekommen.

Nach ein paar Tagen hatte ich meine Nummer fertig, musste an manchen Stellen auch selber grinsen und schickte sie meiner Agentin Julia. „Mhm … joa … doch … hat schon viel Schönes. Aber weißt du was, ich hab ja gute Kontakte zu Comedy-Autoren. Ich würde da noch ein paar Pointen reinschreiben lassen, natürlich nur, wenn das für dich in Ordnung ist.“ War es. Und so wartete ich gespannt auf die überarbeitete Fassung. Vier Tage vor dem Auftritt im Keller des Berliner Friedrichstadt-Palastes hakte ich nach: „Wie schaut’s eigentlich aus mit der Nummer? Ich würde so langsam mal den Standup einstudieren“ – „Jaja, mach dir keinen Stress, die kommt  spätestens morgen.“ Natürlich war der Text am nächsten Tag nicht da. Einen Tag vor dem Auftritt rief mich ein Angestellter der Agentur an. Man wäre am Tag meines Auftritts eh in Berlin, und da der Auftritt erst abends sei, könnte man sich ja morgens im Hotel treffen, um alles in Ruhe durchzugehen. Mir war nicht ganz wohl bei der Sache, und ich fing an, nervös zu werden. Schließlich wollte ich ja auch etwas Gutes darbieten und nicht vor laufenden Kameras und Hunderten Zuschauern im Saal meinen Text vergessen. Aufgeregt ging ich in meiner kleinen Wohnung auf und ab und übte meinen Text. Da meine Wohnung nach vier Schritten wieder endete, lief ich eher im Kreis als gerade Strecken. Das Gehen half mir aber beim Textlernen. Da ich wusste, wo meine geschriebenen Pointen saßen, ließ ich auch immer danach eine kleine Pause, um die Reaktion des Publikums abzuwarten.

Am Tag meines Auftritts fuhr ich mit Bus und Bahn ins Hotel und fühlte mich mal wieder underdressed. Das Hotel war eines der besten Adressen Berlins, und es wuselten allein schon in der Hotellobby ziemlich große TV-Namen rum. Neben Oli Pocher und seiner Freundin scherzten sich auch Annette Frier und Cordula Stratmann durch die marmorgeflieste Eingangshalle zu. Oli erklärte mir, dass gestern irgendeine Preisverleihung gewesen wäre und deshalb alle hier seien.

Sven, der Mitarbeiter aus der Agentur, nahm mich mit in einen riesigen und extrem langen Konferenzraum, der extra für uns angemietet worden war. Man hätte den Eiffelturm, dreimal den Big Ben oder 176 Oli Pochers in diesen Raum legen können, so lang war er. Eine Postkarte mit allen vier Objekten im Größenvergleich hätte man sicherlich an der Rezeption gewinnbringend verkaufen können. „Sooo … ich bin sehr gespannt auf die Pointen“, sagte ich zu Sven. „Jaaaaaa … duuuuuu …“ Ich ahnte, was jetzt kam, und schlug gedanklich schon in den Gelben Seiten nach einem Verzeichnis für Gag-Autoren nach. „Aaaach, weißt du was … das brauchst du gar nicht, die Nummer ist schon so unfassbar stark – das bekommst du schon hin.“ Ich spürte die Last des Eiffelturms auf meinen Schultern, sah die Uhr des Big Ben dreimal so schnell ticken und war leider nicht 176-mal so lustig wie Oli Pocher. Ich ahnte, welche Katastrophe da auf mich zurollen würde. 

Abends zog ich mir mein bestes Hemd und meine coolste Hose an und stellte mich tatsächlich auf die Bühne des Quatsch Comedy Club. Doch die Hand zur Begrüßung streckte mir nicht Thomas Hermanns entgegen, sondern Cindy aus Marzahn. Cindy hatte gerade ihren ersten kleinen Durchbruch in der Comedy-Welt und wünschte mir für heute Abend viel Glück. Ich verstand nicht ganz. Cindy schien die Show zu moderieren, aber nirgends entdeckte ich Kameras. „Willkommen zu Cindys Talentschmiede“, schallte es durch die Lautsprecher. Ich schaute Sven fragend an, der dann beruhigend ansetzte: „Dachtest du etwa, dass wir dich gleich in die TV-Show schicken? Das hier ist so was wie eine Talentbühne. Wenn du auftrittst, darf das Publikum nach zwei Minuten durch Klatschen oder Buhen entscheiden, ob du weitermachen darfst oder aufhören musst. Mir fiel ein Stein vom Herzen, aber ein zweiter wieder drauf. In erster Linie war ich absolut erleichtert, dass mein Auftritt nicht im Fernsehen zu sehen sein würde, aber das Wort „buhen“ machte mir etwas Sorgen. Das Publikum saß, die Scheinwerfer erhellten die Bühne, und Cindy machte ihre Anfangsmoderation. Nun war ich an der Reihe, hatte unfassbar viel Angst, ging raus und fing an zu performen. 

Nach zwei Sätzen fiel mir auf, dass ich noch nie vor einem richtigen Publikum aufgetreten war. Bei VIVA waren da die Kamera und höchstens die gelangweilten Gesichter des Teams, aber hier saßen Hunderte Menschen. Ich musste meinen Knien befehlen, nicht zu zittern, und setzte meinen Stand-up fort. Kurzer Zeitsprung ins Jetzt: Ich habe gerade zwei Stunden im Keller verbracht, um auf alten Festplatten nach meiner vorgetragenen Nummer zu suchen. Ich habe sie tatsächlich gefunden, aber keinen einzigen Witz entdeckt, den ich hier zitieren könnte. Es gab einfach keinen. Stellt euch zwei DIN-A4-Seiten Fließtext vor, auf denen nichts, aber auch gar nichts Witziges steht. Traueranzeigen und mit Schmetterlingen bedrucktes Klopapier sind witziger. Mit einer ganz anderen Wahrnehmung als heute steuerte ich mit meinem Text voller Vorfreude auf meine erste „Pointe“ zu. Ich nahm Anlauf, fing an zu sprinten, setzte zum Sprung an, drückte mich ab, schmetterte den Gag heraus und hielt inne. Ich flog. Und flog. Und flog. Nach fünf langen Sekunden Pause und einem Räusperer aus dem Publikum beendete eine Betonmauer meinen Flug. Niemand lachte. Nicht einer! Aber was macht man jetzt? Eigentlich war mir klar, dass auch meine nächsten „Gags“ nicht für schallendes Gelächter sorgen würden. Also einfach das Mikrophon theatralisch fallen lassen und mitten im Satz von der Bühne gehen? Es wäre die angenehmere Wahl gewesen. Dieser Auftritt wurde zu den längsten acht Minuten meines Lebens. Ich zog es jetzt durch, peitschte mich selber von Rohrkrepierer zu Rohrkrepierer, machte trotzdem brav meine Zäsuren, um Lacher zu ermöglichen, und fing auf der Bühne sogar an, Dialoge mit mehreren „lustigen“ Stimmen zu sprechen. 

Im Publikum setzten auch Dialoge ein, allerdings nicht, um sich an meinem Vortrag zu beteiligen. Das Unangenehmste war dieser Riesenschwall an Mitleid und Fremdscham, der aus dem Publikum zu mir auf die Bühne schwappte. Irgendwann hoffte ich nur noch: „Mein Gott, buht doch bitte einfach – dann haben wir es alle hinter uns“, aber ich genoss an diesem Abend irgendwie Welpenschutz. Man wollte einen offensichtlich verzweifelten, öffentlich scheiternden und eigentlich ganz lieb und nett aussehenden Jungen wohl nicht von der Bühne buhen. „Ach komm, Günter, lass den Jungen babbeln, du holst uns noch ’ne schöne Weinschorle, und ich ruf kurz die Omma an und frag, ob die Kinder schon im Bett sind.“ 

Cindy aus Marzahn kam nach acht Minuten sichtlich erschöpft und leidend auf die Bühne und versuchte mir noch etwas Applaus zu organisieren. Ich bedankte mich freundlich, verbeugte mich noch kurz und kroch sichtlich abgearbeitet und mit rotem Kopf von der Bühne. „HEEEEEEEEY, MAAAAAAAARTIIIIIIN“, kam mir Sven euphorisch und mit riesem Fake-Grinsen entgegen. „DAS WAR DOCH SUUUUUUPER.“ Ich verstand seinen Job und wusste, dass er mich nur aufbauen wollte, aber ich hasste ihn gerade dafür. Ich nickte freundlich, hörte im Hintergrund, wie sich das Publikum beim nächsten Comedian vor Lachen auf die Knie schlug, und ging entzaubert nach Hause. Nach diesem Auftritt beendete Julia ihre Zusammenarbeit mit mir, und das Einzige, was sie noch für mich tun konnte, war, mir ein Praktikum bei einer großen TV-Produktionsfirma zu organisieren. 

Ziemlich zerstört von der Achterbahnfahrt der letzten paar Monate, fing ich als Praktikant in der Redaktion an. Ich hatte mir das alles irgendwie einfacher vorgestellt und brauchte ein paar Momente, um meinen Stolz unter Kontrolle zu bekommen. Vom Moderator zum Praktikanten. Ich hielt meinen Traum in Händen und bekam die Chance, ihn zu leben, aber schnell wurde mir beigebracht, dass Erfolge in dieser Branche eine Halbwertszeit von 24 Stunden hatten. Aber ich wollte neu starten und das Praktikum nutzen. Vielleicht würde man mich ja irgendwann für die Moderation einer neuen Sendung besetzen.

Ich arbeitete an Formaten wie Gülcans Traumhochzeit, The Dome, der Loveparadeübertragung für RTL2 … und lief auf einer Aftershowparty einem der hohen Tiere dieser Produktionsfirma über den Weg. Ich hatte unglaublich viel Respekt vor ihm. Er hatte in der TV-Branche eigentlich schon alles erreicht und strahlte wahnsinnig viel Autorität aus. Aber ich wollte die Chance nutzen und hatte auch schon ein bisschen Mut in Gläsern zu mir genommen. Ich verwickelte ihn geschickt in ein Gespräch und erzählte ihm ein bisschen, was ich in der Firma gerade so machte. Es schien ihn tatsächlich zu interessieren, und ich versuchte, in den fünf Minuten mein bestes, kompetentestes und unterhaltsamstes Ich rauszukramen und ließ mich dabei auch nicht von den Kellnern ablenken, die uns ständig Fingerfood anboten. Mein Gegenüber griff dagegen beherzt zu, ich brabbelte vor mich hin, und er fing an, aus einem kleinen Plastikbecher rote Grütze zu löffeln. Ich merkte, dass seine Geschmacksnerven ihn von mir ablenkten, und wollte einen schönen, smoothen Ausstieg aus dem Gespräch finden. Aber er wollte jetzt auch noch ein paar Sätze sagen und vertraute darauf, dass er das Rote-Grütze-Kauen und gleichzeitige Sprechen schon irgendwie unter einen Hut bekommen würde. Fehlanzeige. Nach drei Wörtern schoss ihm ein Riesenstückchen rote Grütze aus dem Mund und auf meine Wange. KLATSCH! Ich spürte den Aufprall und hätte fast erfühlen können, um welche Frucht es sich handelte. Das Stückchen rutschte nicht, die Konsistenz der Grütze war einigermaßen zäh, und die Süßspeise blieb dekorativ auf meiner Wange kleben. Jeder normale Mensch hätte hier wahrscheinlich sofort reagiert und sich lächelnd das Stückchen aus dem Gesicht gewischt – ich aber wurde panisch und machte – nichts! Ich erwischte mein Gegenüber dabei, wie er paralysiert auf meine Wange starrte und dann Ursachen suchend auf seinen leeren Plastikbecher schaute. Für mich gab es in dem Moment nur einen Ausweg aus dieser Situation. Ich wollte ihn auf keinen Fall in Verlegenheit bringen und entschloss mich dazu, das Stückchen einfach zu ignorieren. Ein Wegwischen wäre einer Konfrontation gleichgekommen: „Sieh her, du hast mich angespuckt. Wie ekelig ist das denn!“ Er müsste dann reagieren, und ich war mir sicher, dass diese Reaktion die Situation noch unangenehmer machen würde. Also: Welche rote Grütze? Ich weiß von nichts! Komischerweise entschied er sich für den gleichen Plan. Auch er ließ sich nichts anmerken, und wir beide unterhielten uns einfach weiter. Mittlerweile hatte sich mein Panikschweiß durch die Poren meiner Haut gekämpft und fing an, die klebrige Masse aufzulösen und in Bewegung zu setzen. Es lief, und ich musste so schnell wie möglich irgendwie aus diesem Gespräch herauskommen. Aus dem schönen, coolen Ausstieg wurde natürlich nichts. Mir fiel nichts Schlaues ein, kein Gag und kein vorgetäuschtes natürliches Gesprächsende. Mittlerweile war ich mir sicher, dass ich Erdbeere auf der Wange hatte, und bildete mir schon ein, sie durch die Haut schmecken zu können. Ich suchte nach der schnellsten Exit-Strategie und sah ein Toilettenschild neben der Bar. Ich hätte es cool und lässig verpacken können, aber warum sollte ich neue Wege einschlagen? Mein Panikzentrum im Gehirn kannte keine coolen und lässigen Wege, um aus unangenehmen Situationen herauszukommen. Es kannte nur einen Weg: alles möglichst schlimmer machen! Obwohl ich folgenden Satz seit meiner frühen Kindheit nicht mehr benutzt hatte, kramte ihn mein Gehirn aus den Untiefen des Uncool-Repertoires heraus und befahl meinem Mund energisch: „JETZT SOFORT AUSSPRECHEN!“ Und so verabschiedete ich mich von meinem Chef, mit einer klebrigen, laufenden Masse auf der Wange und den Worten, die mich für immer als Freak in seinem Gedächtnis verankern sollten: „Ich muss mal schnell Pischi.“ 

Ich musste was ändern! Diese ganze Branche überforderte mich, und auch mein Plan, von der Produktionsfirma übernommen zu werden, erfüllte sich nicht. Ich entschloss mich, fürs Erste das Handtuch zu werfen, und rief zu Hause bei meinen Eltern an: „Kann ich wieder bei euch einziehen?“ Ihr glaubt gar nicht, wie schwer mir diese Frage über die Lippen kam. Ich verließ Hamburg mit Selbstbewusstsein, riesiger Vorfreude und dem Gefühl, dass mir die ganze Welt zu Füßen liegen würde, doch zurück kam ich irgendwie klein und gebrochen. „Du hast das Glänzen in deinen Augen verloren“, hieß es nach den sechs Monaten VIVA von meiner Chefin Sabine. 

Mein Vater saß bei meinem Rückzug nach Hamburg am Steuer des weißen Transporters. Natürlich war es nett von ihm, aber dass gerade er, mein größter Kritiker, mir dabei half, mich aus den von ihm prophezeiten Trümmern herauszuholen, schmerzte natürlich doppelt. Ich glaube, er fühlte sich in der Pflicht, mich jetzt wieder auf die richtige Bahn zu holen. Mein Vater wirkte wie ein Krisenmanager, der hochkonzentriert, aber doch leicht panisch versuchte, die Welt vor dem Untergang zu retten. Unser weißer Umzugswagen fuhr an einem grauen Tag auf die Autobahn, und während sich das Berliner Ortsschild gleichgültig von mir verabschiedete, kämpfte ich mit den Tränen. Da saß ich im Fahrerhaus neben Mama und Papa, zurück Richtung Hamburg, und mit meinem ganzen, kleinen Leben verpackt in Kartons auf der Ladefläche. Einzig und allein der kleine, kitschige Karton mit Ideen, Wünschen und Träumen fehlte. Aus heutiger Sicht bin ich froh, dass alles genau so passierte, wie es passiert ist. 

Natürlich kehrte ich wahnsinnig traurig und wütend nach Hamburg zurück und verfluchte alle in Berlin, die mir meinen Traum zerstört hatten, aber es war in diesem Moment genau das Richtige für mich. Ich war einfach noch nicht so weit. Ich war viel zu naiv, viel zu größenwahnsinnig und auch nicht stark genug. Wenn du dich für einen Job vor der Kamera entscheidest, musst du damit klarkommen, dass sich jeder über dich eine Meinung erlaubt. Und die meisten Meinungen, die auch geäußert werden, sind nun mal nicht die, die du gerne hören möchtest. Mich hat damals diese Kritik, die natürlich auch berechtigt aus den Reihen von VIVA kam, eher verschlechtert als verbessert. Heute würde ich ganz anders damit umgehen: nicht alles an mich ranlassen und mir die Kritik, die einen wirklich weiterbringen kann, zu Herzen nehmen und als Chance sehen. Ich denke auch, dass ich heute ein unfassbar eingebildeter Fatzke wäre, wenn damals alles glattgegangen, und ich durch VIVA berühmt geworden wäre. Dieser Misserfolg hat mich dankbarer, stärker, schlauer und realistischer gemacht, und ich glaube mittlerweile daran, dass alles mit einem guten Grund geschieht. Wenn alles glattgegangen wäre, wäre dieses Kapitel zum Beispiel nur sehr kurz geworden und sooo langweilig.  

Bilder: Sabine Skiba/Fischer Verlag

wsdc

Eine Antwort auf „Leseprobe „Selbstrufmord“ – Wie Martin Tietjen seine Karriere ruinierte!“

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