
In unregelmäßigen Abständen teilt Dragqueen und Musikerin Marcella Rockefeller ihre Gedanken mit den Hollywood Tramp Lesern. In ihrer eigenen Hollywood Tramp Kolumne thematisiert sie alles, was sie als unfair, aktuell und bewegend empfindet.
Hey Peeps! Am Wochenende kam ich erneut in den Genuss, mit dem von mir sehr geschätzten Berry aka Hollywood Tramp eine Folge für seinen Podcast aufzunehmen. Sowohl vom Podcast als auch von seinem Blog bin ich ein großer Fan.
Ich muss zugeben, ich poste nicht viel bei Facebook, was meine Gedanken betrifft. Aber WENN ich denn mal loslege, gibt’s auch keinen Halt mehr, haha. Ich kann mir einfach viel besser meine Gefühle – all das, was mich bewegt und sich in mir anstaut – von der Seele schreiben, als dass ich darüber sprechen kann.
Und so kam Berry auf die Idee, mich hier, bei Hollywood Tramp, ab und an „entladen“ zu lassen. Ungezwungen. Unregelmäßig. Ich hab zwar zu vielem und eigentlich allem eine Meinung, aber das ist so wie mit (m)einem Penis. Schön einen zu haben – aber den muss ich auch nicht jedem um die Ohren hauen.
So, I’m in und wer hier den typischen „Shady Drag Talk“ erwartet… Den muss ich enttäuschen. In der aktuellen Podcast Folge sprechen wir über das Phänomen Hass im Netz, Cancel Culture, Shitstorms & Co. Dieses Thema liegt mir schon lange auf der Seele, weil ich oft doch nur stiller Zuschauer bin. Es hat mich auch noch beschäftigt, lange nachdem wir mit der Aufnahme des Podcasts fertig waren.
Naja – ich lag auf der Couch und scrollte durch Facebook. Bis ich auf einen Beitrag gestoßen bin. Eine junge Frau teilte mit, ihr würde immer öfter auffallen, dass Leute nichts mehr kommentieren möchten, in Sorge dass sie einen Shitstorm kassieren könnten. Es gab wohl mal einen Beitrag, in dem Katy Perry dafür gelobt und gefeiert wurde, mit mütterlichen Rundungen am Strand das Leben im Badeanzug zu genießen. Sie sieht auf dem Bild toll aus.
Eigentlich nichts schlimmes. Oder? Wie ich feststellen musste – doch.
Es entwickelte sich eine wirklich intensive Diskussion, ob das nun eine Form des Bodyshamings sei. Ich habe es nicht gecheckt. Wenn ich z.B. mit meinem Corona-Bäuchlein nicht cool mit mir bin, kann ich sie und ihr Selbstbewusstsein doch feiern. Und vielleicht etwas Selbstbewusstsein für mich mitnehmen. Dafür stehen unsere Gay Icons doch.
Be who you are & love yourself.
Langes Bla, Bla. Dies, das, Ananas. (Ist wirklich ein ausuferndes Thema, bei dem ihr euch bitte selbst informiert, warum es Bodyshaming sein KANN, wenn man Menschen Respekt zollt, wenn sie sich zeigen, wie sie sich zeigen.) Zurück zum Ursprungsposting. Menschen haben Angst zu kommentieren, dass z.B. Katy Perry einfach fucking gorgeous aussieht. (WTF?)
Denn der erhobene Zeigefinger sitzt schon irgendwo zuhause am Handy und wartet bis er zuschlagen kann. Und wenn es Online los geht – geht’s richtig los. Ich bin immer verwundert, was da eigentlich direkt für ein Ton herrscht und wie krass da geschossen wird.
Ja, Menschen machen vermeintlich Fehler. Menschen lernen aber auch. Ihr ganzes Leben lang. Aber ich glaube, keiner von uns wollte als Kind lernen, wenn er angeschrien und angeranzt wurde, weil er vielleicht etwas falsch gemacht hatte. Und noch weniger konnte man die leiden, die uns mit einem absoluten Überlegenheitsgefühl gegenüber getreten sind. Von denen wollte ich gar nix lernen.
Outcallen und Cancel Culture
Es ist die Art und Weise, WIE man Menschen darauf hinweist, die vielleicht eine unbedachte Aussage getätigt haben. Leute direkt „outcallen“ und „canceln“ empfinde ich persönlich nicht als den richtigen Weg. Im REALEN Leben findet eine Unterhaltung, ein Dialog oder eine Diskussion vor allem mit einem Blick in die Augen statt.
Aber wir sind hier Im Netz. Der Ton macht die Musik und jeder von uns interpretiert das geschriebene Wort anders. Vor allem, wenn es von jemandem kommt, der uns völlig fremd ist. Wir haben keinerlei Bezug zu diesem „Gegenüber“. Wir wissen nicht, warum die Person etwas so geschrieben hat, wie sie es geschrieben hat.
Anstelle von einem „Miteinander“ findet aber eine Spaltung statt
Zu oft krachen direkt zwei absolut verhärtete Fronten aufeinander und jeder sieht seine Meinung als die einzig Richtige. Anstelle von einem „Miteinander“ findet aber eine Spaltung statt. Nichts macht mich müder als dieses sinnlose Bashing, wo es einfach keine „Gewinner“ geben kann. Das alles endet im Nichts. Man hat einen Haufen Lebenszeit an Menschen verschwendet, denen man im realen Leben niemals begegnen wird.
Und es ist scheißegal, um welches Thema es geht. Gendern, Impfen, (…), Katy Perry. Es muss nicht jeder vernichtet werden, der nicht meine Ansicht teilt. Ich kann wunderbar andere Meinungen aushalten. Solange wirklich keiner diskriminiert, verleumdet oder gar geschädigt wird. Freie Meinung ja – aber Diskriminierung ist strafbar (Sollte dem so sein – im Netz ist niemand Anonym).
Paar Kilos mehr
Man muss nicht mal zur Polizei. Man kann ganz simpel einen neuen Tab im Browser öffnen und eine Online Anzeige stellen. Was ich jedem rate, der Diskriminierung im Netz erfährt. Nun gut. Zwei kleine Beispiele: Lady Gaga – Born This Way Tour 2012 mit ein paar Kilo mehr auf den Rippen. Sie hat die Show gekillt. Und wenn ich sage, ich mag ihr kleines Bäuchlein oder ihr Mini-Doppelkinn und ich bewundere sie dafür, dass sie ein „Fuck it!“ drauf gibt, ob das irgendjemand kritisiert, bin ich meilenweit von Bodyshaming entfernt. Genau dafür steht sie ja auch.
Diese „Stars“ sind Vorbilder und zeigen anderen, dass es egal und absolut nebensächlich ist – kannst trotzdem ’ne geile Rampensau in einer sexy Klamotte sein. Dafür stehen sie in der Öffentlichkeit und setzen das meist auch für „das Gute“ ein. Ich finde die gnadenlose Verurteilung nicht richtig. Nächstes Beispiel: Impfen. Ganz heikel, ich weiss. Juckt mich aber nicht. Sobald ich mich Impfen lassen kann und wir Back to „Normal“ gehen können, werde ich das tun.
Aufgepasst, jetzt kommt’s: Ich habe aber auch Verständnis für die, die vielleicht Angst haben und einfach nur hinterfragen wollen. Ohne diese Menschen zu verurteilen und aus dem Nichts allesamt als Verschwörungtheoretiker, Schwurbler oder sonst wie abzustempeln. Sollten mir absolut unglaubwürdige Argumente entgegengebracht werden, kann ich das Gespräch immer noch beenden.
Menschen mit Angst
Ich hab vor kurzem auch noch überlegt, ob ich ’ne Tablette gegen Rückenschmerzen einwerfen soll, denn im Beipackzettel stand, dass ich Magenblutungen bekommen und sterben kann. Von einer Tablette die nicht größer als ein halbes TicTac ist. Menschen, die Angst haben, auszulachen oder als dumm hinzustellen ist einfach nicht cool. Weil es sie in die Arme derer treibt, die sich diese Angst zu Nutzen machen. Es sind nicht alle so. Klar. Es sind aber auch nicht alle Aluhutträger und geistig mit Avocadolf Hildmann auf einer Ebene.
Auch hier MUSS ein Dialog stattfinden können. Wenn selbst unsere Politiker und Medien die Menschen denunzieren und nur die AFD „ein offenes Ohr“ (wahrlich auch ohne Lösungen!!) hat, graut es mir vor den nächsten Wahlen. Wenn ich von wildfremden Menschen beleidigt werde, hab ich auch ich keinen Bock mehr zuzuhören.
Und ich muss sagen: ich habe zu vielen Themen, die in den Sozialen Medien stattfinden, schon einige ruhige und humane Gespräche geführt, bei denen ich auch für mich etwas mitnehmen konnte.
Ob man am Ende auf einen Nenner kommt oder nicht. Egal. Wir können doch nicht verlernt haben, mit anderen Meinungen umzugehen und als einzige Verteidigung das „canceln“ einer Existenz als Lösung sehen. Ich könnte das alles endlos weiterführen. Mit 780 Tausend anderen Themen und Beispielen.
Was ich einfach nur sagen möchte: Lasst uns BITTE NICHT die Menschlichkeit verlieren.
Werte und Regeln auch im Netz
Wenn uns die Zeit eines gelehrt hat, dann, dass die Menschen nach jeder noch so schlimmen Katastrophe auch wieder gute Zeiten erlebt haben. Und mein Optimismus ist fast schon unerträglich. Das können wir aber nur schaffen, wenn wir wieder beginnen miteinander zu reden und uns nicht verurteilen, niedermachen oder ignorieren. Die Werte und Regeln nach denen wir leben, sollten auch in der digitalen Welt stattfinden.
Das Leben aber findet immer noch draußen statt – Nicht hinter diesem „Black Mirror“, der sich Bildschirm nennt. (Ja, für jeden der sich fragt, was bei der Netflix Serie „Black Mirror“ gemeint ist – genau! Es ist der Handybildschirm. Das Tor zur digitalen Welt. Gern geschehen.)
Kritik ist wichtig. Immer. Anders können wir nicht lernen. Ich bin der letzte, der sie nicht annimmt. Solange sie angemessen formuliert ist und man respektvoll miteinander umgeht. Und ich bin auch jemand, der sich auch entschuldigen und es besser machen kann, wenn ich Menschen mit Worten verletzt habe. Wir sind alle Individuen, die ein Recht drauf haben, fair behandelt zu werden.
Und wenn ich nicht fair behandelt werde, gibt’s einen kleinen Knopf am Handy und der Bildschirm geht aus. Dann bin ich zurück im wahren Leben und höre von der Person XY nie wieder was. Weil sie in den endlosen Tiefen von Social Media verschwunden ist. Passt auf euch auf und bleibt gesund!
Text: Marcella Rockefeller
Bild © Mirko-Plengemeyer